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Mai 12, 2025

Schulden statt Chancen? Warum wir keine Mikrokredite anbieten.

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Wenn wir über Armutsbekämpfung sprechen, werden wir oft gefragt: „Was ist mit Mikrokrediten?“ Berechtigte Frage, denn Mikrokredite weckten einst weltweite Hoffnung als revolutionäre Lösung für die Armut. Die Realität stellte sich als deutlich komplizierter heraus, und der anfängliche Optimismus schwand. In diesem Artikel erklären wir, warum wir einen anderen Ansatz gewählt haben.

Was sind Mikrokredite? 

Beginnen wir mit den Grundlagen, um sicherzustellen, dass wir über dasselbe sprechen. Im Zusammenhang mit der Armutsbekämpfung beziehen sich Mikrokredite auf Kleinkredite – oft zwischen 50 und 500 US-Dollar –, die an Menschen vergeben werden, die in Armut leben. Diese Darlehen sind mit Zinssätzen verbunden, die in der Regel zwischen 20 % und 30 %, manchmal sogar höher. Ziel ist es, den Empfänger:innen dabei zu helfen, kleine Unternehmen zu gründen und ihren Lebensunterhalt zu verbessern.

Hohe Rückzahlungsraten – oft zitiert unter 95 % und mehr – werden häufig als Beweis dafür verwendet, dass Mikrokredite ihr beabsichtigtes Ziel erreichen. Obwohl wir nicht an der Richtigkeit dieser Zahlen zweifeln, gibt es Raum für die Frage, wie sie genau interpretiert werden sollten – aber dazu komme ich später.

Der globale Aufstieg der Mikrokredite

Mikrokredite rückten ins globale Rampenlicht, als Muhammad Yunus und seine Grameen Bank im Jahr 2006 den Friedensnobelpreis für ihre bahnbrechende Arbeit erhielten. Ihre Kreditvergabe – vor allem an Frauen – veränderte das Narrativ rund um Kredite für Menschen in Armut. Was zuvor als riskant oder ausbeuterisch galt, wurde plötzlich als Instrument zur Stärkung von Selbstbestimmung und Armutsbekämpfung gefeiert. Das Versprechen war einfach, aber kraftvoll: Kleine Kredite könnten die Ärmsten zu Unternehmer:innen machen. Und für eine Weile fühlte es sich tatsächlich wie ein Durchbruch an.

Als der Hype auf harte Fakten traf

In den folgenden Jahren nahmen Ökonomen Mikrokredite genauer unter die Lupe. Sechs grosse, unabhängige Studien, die Anfang der 2010er Jahre in Ländern von Indien bis Mexiko durchgeführt wurden, kamen zu einem auffallend ähnlichen Ergebnis: Im Durchschnitt erzielten Empfänger:innen von Mikrokrediten im Laufe der Zeit kein höheres Einkommen.

Einige Studien zeigten zwar bescheidene Vorteile, etwa mehr Zeit, die für geschäftliche Aktivitäten genutzt wurde, oder geringfügige Veränderungen im Ausgabeverhalten. Doch insgesamt blieben die Auswirkungen begrenzt.

Der Nobelpreisträger Abhijit Banerjee fasste es in der Metaanalyse dieser sechs Studien folgendermassen zusammen: „Wir stellen ein konsistentes Muster mäßig positiver, aber nicht transformativer Effekte fest.“

Für einige waren die ernüchternden Ergebnisse dieser Studien eine Überraschung. Für andere bestätigten sie lediglich, was längst vermutet wurde: Die Erwartungen an Mikrokredite waren von Anfang an zu hoch. Der Ökonom Bruce Wydick formulierte es treffend:

« Als sie in den USA Kreditkarten einführten und fast jeder Zugang zu einem Kreditrahmen hatte, hat das Millionen von Menschen aus der Armut befreit? Nein. »

Bruce Wydick


Tatsächlich sind heute viele Amerikaner:innen mit niedrigem Einkommen durch erdrückende Kreditkartenschulden belastet – ein Beleg dafür, dass der Zugang zu Krediten nicht automatisch zu finanzieller Sicherheit führt.

Unser Fazit: Mikrokredite mögen in bestimmten Kontexten nützlich sein, doch sie haben nicht den tiefgreifenden wirtschaftlichen Wandel gebracht, den sich viele einst erhofft hatten.

Was Mikrokredite dennoch bewirkt haben

Die ersten Hoffnungen auf Mikrokredite waren riesig. Und auch wenn sie nicht Millionen von Menschen aus der Armut befreiten, brachten sie dennoch spürbare Vorteile:

  • Mehr finanzielle Wahlmöglichkeiten: Mit klaren und fairen Regeln bieten Mikrokredite eine sicherere und verlässlichere Alternative zur informellen Kreditvergabe. Die Menschen wissen, wann sie unter welchen Bedingungen Zugang zu einem Kredit haben. Durch kleine, regelmässige Rückzahlungen können sie Vertrauen aufbauen und sich für zukünftige Kredite qualifizieren. Es kann auch die sozialen Belastungen lindern, die mit der Kreditaufnahme bei Freunden oder der Familie einhergehen.

  • Besserer Zugang: Mikrokredite trugen dazu bei, den finanziellen Zugang und die Inklusion zu verbessern. Eine ihrer wichtigsten Errungenschaften bestand darin, Finanzdienstleistungen für unterversorgte Gemeinschaften bereitzustellen, insbesondere für Menschen, die in Armut leben und oft von formellen Bankensystemen ausgeschlossen sind. Durch Haftungsgemeinschaften erhielten viele erstmals die Möglichkeit, Kredite aufzunehmen.

  • Ein skalierbares Modell: Kleinkredite sind keine neue Erfindung. Menschen haben schon immer in sozialen und geschäftlichen Netzwerken Geld geliehen – und tun es noch heute. Mikrokreditinstitute formten diesen Prozess jedoch zu einem formellen System, zogen externe Finanzierung an und ermöglichten Kredite in grösserem Umfang, auch für jene, die keinen Zugang zu informellen Krediten hatten. Im Jahr 2023 waren etwa 173,5 Millionen Menschen Mikrokreditnehmer:innen.

  • Lokale wirtschaftliche Stabilität: Mikrokredite sind in vielen einkommensschwachen Regionen Teil des Finanzgefüges geworden und nicht einfach zu ersetzen. In einigen Fällen, wie im ländlichen Indien, Die Schließung von Mikrokreditinstituten führte zu Lohnrückgängen – was darauf hindeutet, dass diese Kredite dazu beigetragen haben, die grundlegende Wirtschaftstätigkeit aufrechtzuerhalten. Eine solche Stabilität verändert vielleicht nicht das Leben, aber in fragilen Kontexten ist sie wichtiger, als es scheint. 

In vielen einkommensschwachen Regionen sind Mikrokredite zu einem festen Bestandteil des Finanzsystems geworden. Sie sind schwer zu ersetzen. Ein Beispiel: In ländlichen Regionen Indiens führte die Schliessung von Mikrokreditinstituten zu sinkenden Löhnen – ein Hinweis darauf, dass Mikrokredite dazu beigetragen haben, eine grundlegende wirtschaftliche Aktivität aufrechtzuerhalten. Wirtschaftliche Stabilität in einer Region verändert das Leben eines Menschen in Armut nicht automatisch, kann aber in fragilen Kontexten entscheidend sein.

Schattenseiten von Mikrokrediten

Mit dem schnellen Wachstum der Mikrokreditbranche stiegen auch die Probleme. Tausende neuer Mikrokreditinstitute entstanden – doch längst nicht alle handelten fair. Manche verlangten Wucherzinsen, andere setzten starre und aggressive Rückzahlungsregeln durch.

In Sierra Leone haben wir selbst erlebt, wie der Druck zur Rückzahlung Schaden anrichten kann. Besonders in Gruppenmodellen, bei denen alle Mitglieder füreinander haften, bleiben die Rückzahlungsquoten zwar hoch, doch die menschlichen Belastungen bleiben oft unsichtbar. Gerät eine Person in Zahlungsschwierigkeiten, trifft die Konsequenz auch die anderen: Es kommt zu Scham, sozialer Ausgrenzung oder sogar zu Belästigung.

In einigen Fällen, vor allem bei Frauen, führte die Nichtrückzahlung sogar zur Inhaftierung – eine Strafe, die genau jene Familien trifft, die eigentlich unterstützt werden sollten.

« In solchen Situationen stehen die negativen Folgen von Mikrokrediten in einem krassen Missverhältnis zum ursprünglichen Ziel, Hilfe zu leisten. »

Wir glauben nicht, dass Mikrokredite grundsätzlich schädlich sind. Schlechte Akteure gibt es in jeder Branche – besonders, wenn es um Geld geht. Manchmal liegt das Problem auch in Richtlinien, die es nicht schaffen, die Schwächsten zu schützen. Trotzdem haben uns diese Geschichten vorsichtiger gemacht. Sie zeigen, was schiefgehen kann, wenn eine gut gemeinte Idee ohne ausreichende Schutzmassnahmen für die Menschen, denen sie helfen soll, schnell wächst.

Blockieren Mikrokredite echten Fortschritt?

Manche Kritiker argumentieren, dass Mikrokredite nicht nur unzureichend sind, sondern Ressourcen sogar falsch verteilen. Statt Kapital in grössere Investitionen zu lenken, die Arbeitsplätze schaffen und systemische Veränderungen bewirken könnten, fliesst es in existenzsichernde Kleinbetriebe mit begrenztem Wachstumspotenzial.

Das ist eine berechtigte Sorge, auch wenn sie schwer zu belegen ist. Was jedoch klar ist: Mikrokredite verlagern das finanzielle Risiko oft auf die Ärmsten und zwingen sie, die Last des Unternehmertums zu tragen – meist ohne Sicherheitsnetz. Gleichzeitig haben Mikrokredite Banken und staatlichen Hilfsorganisationen erhebliche Gewinne eingebracht. Einige kritisieren, dass dieser Gewinn auf der Ausbeutung von Millionen schutzbedürftiger Menschen basiert.

Warum Mikrokredite nicht unser Weg sind

Ja, wir hätten eine Mikrokredit-NGO werden können – motiviert durch gute Absichten und den echten Willen, etwas zu bewirken. Aber wir mussten uns fragen: Würde das den Menschen wirklich helfen, aus der Armut herauszukommen?

Hier sind die Hauptgründe, warum wir uns dagegen entschieden haben:

  • Was ist mit dem einen von zehn, der nicht zurückzahlen kann? Wenn 90 % der Kreditnehmenden erfolgreich zurückzahlen, was geschieht dann mit denen, die es nicht schaffen? Das ist kein kleines Detail – es ist eine ernste Konsequenz. Bei Gruppenkrediten kann der Zahlungsausfall einer Person die gesamte Gemeinschaft belasten. Wir verstehen, dass Gruppendruck helfen kann, die Rückzahlungsquoten hoch zu halten. Aber die Frage ist: Zu welchem Preis? Eine Studie zeigte, dass über 60 % der Kreditnehmenden von Gruppenmitgliedern bedrängt oder belästigt wurden, um Kredite zurückzuzahlen, die sie sich nicht leisten konnten. Das ist nicht die Art von Unterstützung, die wir bieten möchten. Wir wollen Schaden vermeiden – nicht nur auf Nutzen hoffen.

  • Mikrokredite sind ressourcenintensiv. Die Verwaltung von Krediten und das Eintreiben von Zinsen erfordert eine komplexe Infrastruktur und ist mit erheblichen Kosten verbunden. Als kleine Organisation mit begrenzten Ressourcen wussten wir, dass solche Aufwände letztendlich die Mittel reduzieren würden, die wir den Menschen in Not direkt geben könnten.

  • Wir würden es keinem Freund empfehlen. Würden wir einem Freund, der bereits finanziell kämpft, raten, einen Kredit mit 30 % Zinsen aufzunehmen? Wahrscheinlich nicht. Diese Intuition war uns wichtig.

  • Armut sieht nicht für alle gleich aus. Mikrokredite funktionieren oft am besten für Menschen, die bereits unternehmerische Fähigkeiten besitzen. Sie setzen ein gewisses Mass an Selbstvertrauen, Chancen und Belastbarkeit voraus – Dinge, die viele Menschen in extremer Armut einfach nicht haben. Unser Ziel war jedoch immer, alle Menschen zu unterstützen, die von Armut betroffen sind – nicht nur diejenigen, die bereit sind, ein Unternehmen zu gründen. Ältere Menschen, Pflegekräfte oder Menschen mit chronischen Krankheiten sind oft nicht in der Lage, die Risiken des Unternehmertums einzugehen. Aber sie verdienen trotzdem Unterstützung, Stabilität und die Chance, eine bessere Zukunft aufzubauen – zu ihren eigenen Bedingungen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Mikrokredite sind eine Möglichkeit zu helfen und können in manchen Kontexten sinnvoll sein. Aber für uns war es nicht der richtige Weg.

Vom Kredit zum bedingungslosen Geldtransfer

​​Unserer Ansicht nach sollte Unterstützung den finanziellen Druck verringern – nicht verstärken. Wenn es hilft, Geld zu geben, Rückzahlungsforderungen aber zu neuem Stress führen, warum dann nicht kleine Beträge direkt spenden – ohne Bedingungen?

Das ist keine radikale Idee. Bedingungslose Geldtransfers gibt es seit Jahrzehnten und sie sind durch Organisationen wie GiveDirectly, die 2008 gegründet wurde, bekannter geworden. Sie basieren auf einer einfachen Überzeugung: Menschen wissen selbst am besten, was sie brauchen. Würde und Wahlmöglichkeiten sind keine Belohnungen – sie sind Ausgangspunkte für positive Veränderungen.

Für dieses Modell haben wir uns entschieden – eines, das neu definiert, wie sinnvolle Unterstützung aussehen kann: basierend auf Vertrauen, persönlicher Entscheidungsfreiheit und dem Verständnis, dass Stabilität der erste Schritt zu nachhaltiger Veränderung ist.

In einem zukünftigen Artikel werden wir genauer darauf eingehen, wie direkte Bargeldhilfe einige Mängel von Mikrokrediten beheben kann – und was die Forschung über den Ansatz in der Armutsbekämpfung sagt.

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Konsultierte Studien:

Banerjee, A., Karlan, D., & Zinman, J. (2015). Six randomized evaluations of microcredit: Introduction and further steps. American Economic Journal: Applied Economics, 7(1), 1–21. https://doi.org/10.1257/app.20140287

Cull, R., & Morduch, J. (2017). Microfinance and economic development (World Bank Policy Research Working Paper No. 8252). World Bank. https://drive.google.com/file/d/1fWppTiSyyMWFqkWwfBMmitEiqZ-4YVj3/view

Kiiru, J. M. M. (2007). Microfinance: Getting money to the poor or making money out of the poor? Finance & Bien Commun, 27(2), 64–73. https://doi.org/10.3917/fbc.027.0064

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